Blickwechsel und Wechselbild
Zum Werk „ dieses eine Ereignis.“ von Ludwig Dunkel
Aus Anlass der Ausstellung Gerettet – auf Zeit. Kindertransporte nach Belgien 1938/1939 in der Ernst-Barlach-Gesamtschule Dinslaken im Frühjahr 2022 präsentiert der Lern- und Gedenkort Jawne ein neues Kunstwerk des Künstlers Ludwig Dunkel. Die historische Ausstellung und die künstlerische Arbeit zeigen als einander unabhängige und eigenständige Beiträge verschiedene Formen der Auseinandersetzung mit der Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus. Im Zentrum der Ausstellung steht die Verfolgung jüdischer Kinder, ihre vorläufige Rettung nach Belgien und der dortige Widerstand, der viele von ihnen als enfants cachés, als versteckte Kinder vor der Deportation und Ermordung bewahren konnte.
Abgesetzt von der historischen Ausstellung in der Schul-Aula hat der Künstler für sein Kunstwerk deren Bühne gewählt, auf der üblicherweise Theaterstücke geprobt und gespielt werden. Die Bühne ist leergeräumt, der Bühnenraum schwarz, seine Rückwand durch einen großen schwarzen Vorhang abgeschlossen. Für diese Black Box gestaltet Dunkel sein Werk „ dieses eine Ereignis.“ Es zeigt sich nahezu schattenlos mittels Spots und Bühnenoberlicht. Links wird es begrenzt durch drei aneinander gelehnte flache, weiße Holzkisten mit der Inschrift ‚Description‘. Zur rechten Seite bilden drei dicht hintereinander gestellte historisierende, ornamental geschmückte Parkbänke aus Holz und Metall den Abschluss des Werks. Auf den vorderen zwei Bänken lehnen hochgestellt je zwei zusammengerollte Decken aus filzartigem, grauem Textil. Während Bänke, Decken und Kisten sich zum Saal hin offen präsentieren, steht in der linken Hälfte auf einem Stativ eine Foto-Kamera, deren Ausrichtung sich vom Saal und den anderen Gegenständen auf der Bühne abwendet. Alle Objekte der Installation stehen auf fünf ausgebreiteten, abgenutzten Imitaten von Orientteppichen, die sich der Länge der Bühne nach neben- und aufeinander liegend ausdehnen.
Mit diesem Ensemble von Objekten, die wie in einer Aufstellung aufeinander bezogen sind, verbinden sich unterschiedliche Bildformen und Bildebenen: vom Bild zum Wort, vom Wort zur Szene, von der Szene zum Bild – so montiert Dunkel in seinem Werk eine wechselvolle Konstellation.
Eine erste Ebene bildet das szenische Bild, in dem die Gegenstände als Requisiten erscheinen. Sie wirken wie ein verlassenes Bühnenbild, ohne sichtbare Spuren von Akteuren erkennen zu lassen. Die Dinge erscheinen zurückgeblieben. Gab es Personen, die dort auftraten, so sind sie nun verschwunden. Die Gegenstände als benutzte und (gerade) verlassene verbinden sich imaginativ mit Aussagen zu ihrem Gebrauch, als Nachklang des Spiels der Akteure. Dass Ludwig Dunkel die Bühne des Theaters als Schauplatz der Kunst wählt, reflektiert auf den Status, den sie hier hat. Die Situation der Kunst vermittelt sich als Gemachte, als wäre sie immer zugleich außerhalb dessen, was sie darstellt. In dieser Konstellation stehen die einzelnen Objekte zueinander in einer Ordnung, die der Struktur einer Bühne gemäß auf Vordergrund und Narration, und Anwesenheit des und der Abwesenden reagiert.
Diese Abwesenheit schafft als zweiten Bildraum eine skulpturale Installation. In ihr werden die einzelnen Elemente zu einer feststehenden und unveränderlichen autonomen Werkgestalt. Die von links nach rechts und umgekehrt verlaufende bewegliche Assoziation des Bühnen-Settings wird zugleich ruhiggestellt wie in einem Stillleben eines Gemäldes. Wie in szenischen Malereien der Niederländer des 17. Jahrhunderts werden Farben und Formen in dem Sujet eines Gesellschaftsbildes ohne Personal aber mit Gegenständen komponiert.
Der Blickwechsel aus der Zentralperspektive eines Bühnenbildes hin zum horizontal aufgestellten Kunstbild wird im Werk selbst wiederholt und variiert. Der Bildausdruck wird zum Wechselfall, der die Blickrichtungen der Betrachter in widersprüchlicher Weise anspricht. Dies bezieht sich sowohl auf die Anmutung eines vergangenen Geschehens als auch auf die eingesetzten ruhenden Dinge selbst. Die Alter und Patina suggerierenden Park- oder Gartenbänke rechts sind so eng gestellt, dass nur die erste der drei ausreichend zum Sitzen Platz gibt. Eine Nutzung erscheint unerwünscht. Auf die Sitzflächen der ersten beiden Bänke sind vier aufgerollte ärmliche Stoffdecken aus Filz im Hochformat gelehnt. Die Anlehnung an die Rücklehnen der Bänke lässt die dinghafte Form als wesenhafte erscheinen; als Anspielung auf die Abwesenden, eine mit den Eigenschaften der Decken sich verbindende Assoziation von leiblichen Erfahrungen. Die Bänke wenden sich dem Publikum zu. Diese zugewandte Stellung hin zum Betrachter wird verstärkt durch die Decken, die subjektiv bezogen anmuten, Vertreter ihres Gebrauchs.
Die Foto-Kamera in der Mitte wendet sich ab vom Bühnengeschehen in den leeren Raum hinter der Bühne und erscheint als Relikt einer Handlung, deren Ende durch die Drastik betont ist, dass sie auf ein Metallrohr aufgespießt wurde. Dass jemand sich ein Bild machen wollte, ist vielleicht versucht worden, nun aber im Werk selbst nicht (mehr) möglich. Die Kamera als Mittel der Photographie sieht ab von den Betrachtern, und sie sieht ab von den Objekten, sie fokussiert auf ein nicht Bestimmtes. Das Bilder im Bild existierten, wird zitiert durch die Fotokamera, deren Beweiskraft zugleich in Frage gestellt ist.
Während die Bänke im Bild rechts im vierzig Grad Winkel der Betrachtung entgegenstehen, und den Bildeindruck nach dieser Seite abschließen, wird dieser Abschluss auf der linken Seite des Werks durch drei beschriftete Holzkisten geleistet. Auch sie sind mit geringfügigem Winkelgrad dem Publikum zugeneigt, so dass sie in ihrer Frontalansicht erkennbar werden. Sie stehen auf ihren Schmalseiten, eine zudem hochgestellt, so dass ihre Beschriftung entsprechend von unten nach oben zu lesen ist. Die drei flachen Holzkisten sind weiß gestrichen und tragen alle in roter Schablonenschrift den Schriftzug ‚Description‘, was übersetzt Beschreibung, Bezeichnung oder auch Erklärung heißt. Ob der gemalte Aufdruck die Kisten selbst und deren Inhalt meint, oder sich auf die Gesamtsituation des Werks bezieht, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Das Versprechen des Wortes und das ihm widerstreitende Verborgene bestimmen rätselhaft die selbst-referentiellen Objekte. In ihnen wird eine dritte Bildebene organisiert.
Zu dem Bild des Dramas, dem der fotografischen Dokumentation tritt das zwischen Gemälde bzw. Tafelbild und Skulptur changierende Wort-Bild. Der Gedanke zeigt sich als Bild. Die Kisten enthalten den geringsten Gebrauchscharakter aller Objekte des Werks, und betonen ähnlich wie auch das Bühnendekor und die Kamera das selbstreflexive und zugleich subjektive Verfahren des Künstlers.
Die Teppiche sind der Grund, auf dem alles Geschehene imaginiert werden kann, der Bildgrund, unruhig und verschoben. Das horizontale Bild wird durch ihre Collage erreicht, die alle Objekte miteinander verbindet und zugleich entfernt. Die Orientteppiche, die farbig und unförmig neben- und übereinander liegen, dehnen das Bild auf eine Länge von mehreren Metern. Zugleich erzeugen sie einen verblichenen Eindruck von Geborgenheit und Wohnlichkeit, und vertreten einen Innenraum. Wie die ornamentalen Bänke sind sie dem bürgerlichen Ambiente entlehnt.
Decken und Bänke, Kamera und Teppiche und Kisten sind allerdings in dieser horizontalen Anordnung nicht mehr Statthalter, die auf ihren Gebrauch warten, als käme das Lebendige zurück und würde die Dinge wie einstmals in Anspruch nehmen. Die Rückkehr scheint vielmehr ausgeschlossen. So kehren sich Innen und Außen, Teppiche und Bänke, in ein Bild, ähnlich wie durch die Kamera Subjekt und Objekt sich verschränken, und die Kisten ihr Inneres erst durch die sichtbare Außenschrift verbergen. Diese mit sich identische ‚Welt‘ bildet eine Totalität ohne Zugang und ohne Ausweg.
Der Titel des Werks heißt: „ dieses eine Ereignis.“, und endet mit einem Punkt, nachdem er aus einem durch Leerzeichen bestimmten Vorgängigen sich artikuliert hat. Mehr als Samuel Beckett, bei dem die Geschichte als mit sich selbst negativ vereint als dem nicht mehr Sinnvollen dem Nichts nicht mehr als abgerungen erscheint, bezieht sich Dunkel auf ein bestimmtes geschichtliches Ereignis. Aber es lässt sich nicht anders als in der vorliegenden Form zeigen. Das Paradox eines sich selbst dementierenden Kunstwerks, das anzeigt, dass es etwas nicht zeigt, und dazu auffordert, zu sehen, dass es an den Grenzen der Erklärung im bildnerischen Ausdruck steht. Die Frage nach dem Abbild wird abschlägig beschieden, im Besonderen im Hinblick auf historisches Geschehen.
Das Kunstwerk erscheint wie eine negative Allegorie, die ihren Sinn darin hat, keinen Sinn vermitteln, keine Erklärung geben zu können. Allegorisch meint, eine abstrakte, begriffliche Erkenntnis bildhaft oder sinnlich auszudrücken. Hier gibt es aber ein Bild, das sich aus dem Begriff der erklärbaren Geschichte wieder zurückzieht und sich einer Situation stellt, an dem das Wissen dieses einen Ereignisses, der Shoah, nicht fähig ist, der Erfahrung der Überlebenden ausreichend Ausdruck zu geben. Die Aufgabe scheint darin zu bestehen, diesen Stand des Bewusstseins zu bewahren und trotzdem offen zu halten.
Die von Dunkel geschaffene Real-Abstraktion ist ein Denk-Bild. Es gibt im Werk kein Zentrum, und dennoch eine Einheit. Einerseits sind alle Gegenstände des Werks als Realien erkennbar und keine historischen Objekte. Die Bänke, Decken und Teppiche wurden in China hergestellt und sind über das Internet gekauft worden. Die Holzkisten sind aus einfachem Bauholz vom Künstler gebaut. Die Kamera ist eine Agfa-Optima aus den 1960ern. Zum anderen ist das Entleeren aller Bildinhalte und ihrer Einzelheiten hin auf den Zustand, dass sie keine Erklärung geben können, abstrakt. Die Grenze zur drängenden Leere bestimmt die Entscheidung zum beziehungslosen Ort einer gewordenen Ansammlung von einzelnen Elementen, deren Erscheinung als Rest von Etwas beunruhigt und verwirrt. Dieses Verfahren der Grenzziehung entspricht laut Dunkels eigenen Worten dem des ‚Ereignishorizonts‘. Der bezeichnet die größtmögliche Annäherung an das physikalische Phänomen des Schwarzen Loches. Bis zu diesem Punkt kann maximal die Annäherung an das Ereignis, das Schwarze Loch, erreicht werden. Danach zieht dieses alles in seine Singularität, die kein außerhalb kennt und sogar Licht spurlos in sich verschwinden lässt. Das Ereignis zu sehen bedeutet in ihm zu verschwinden. Die Wahrheit ist für diese Arbeit eine negative. Es gab und gibt eine Wirklichkeit, der kein Sinn gegeben werden kann. Auch dies nennt der Künstler Ereignishorizont. Eine Wahrheit, die negativ und darin nicht erklärbar ist, wirkt ausschließlich, sie nimmt alles in sich auf, eine Art schwarzes Loch, das nichts mehr frei lässt. Das Entkommen ist bei Dunkel ähnlich wie bei Franz Kafka und Beckett nicht möglich. Dies betrifft auch die Kunst, die ähnlich rätselhaft Verlorenheit und Formen des Verlustes anzeigt, und denen der Künstler ein Nach-Bild verschafft, das wie die Stillleben Trauer und Leid zur Erfahrung bringt.
Werner Fleischer