der Tisch

Übertragene Erinnerung –

Zum Werk der Tisch von Ludwig Dunkel

Das Werk der Tisch von Ludwig Dunkel verbindet räumliche und zeitbezogene Formentscheidungen mit historischen und gegenwärtigen Aspekten der Erinnerung zu einer komplexen skulpturalen Installation. Die Arbeit entstand 2019 im Zusammenhang mit der Ausstellung Gerettet – auf Zeit. Kindertransporte nach Belgien 1938/1939 des Lern- und Gedenkortes Jawne in Köln. Die Initiative bat den Künstler um einen Beitrag aus Anlass der Erinnerung an die Verfolgung, aber auch Rettung jüdischer Kinder in Belgien im Nationalsozialismus. Seit langem verarbeitet und erkundet Dunkel in seinen Werken die Formen und Möglichkeiten, Bedingungen und Schwierigkeiten des Erinnerns.

Das Kunstwerk besteht aus zwei aufeinander bezogenen skulpturalen Objekten: zum einen eine Tischgruppe, gebildet aus einem Esstisch ohne Tischplatte aus den 1920er Jahren, vier unter diesen geschobenen Stühlen aus den 1950ern sowie einer mehrfachen Umwicklung dieser Möbel mit 
einer Kunststofffolie; zum anderen aus einem Stapel über- und nebeneinander gelegter Balken aus Bauholz mit einer Länge von zwei Metern in einer Höhe von einem Meter und einer Breite von 80 cm. Die Balken sind auf schmale Abstandshölzer so platziert, dass sie einander nicht berühren. Aus den Alltagsgegenständen – Tisch, Stuhl, Folie, Bauholz – wird als bearbeitetes Material des Kunstwerks eine skulpturale Installation. In ihr werden Tisch und Block im Ausstellungsraum derart aufeinander bezogen, dass man sie im Ganzen und als je Einzelnes umkreisen und zwischen sie treten kann. Betritt man die Ausstellung, sieht man beide Elemente nebeneinander. Steht man in ihrer Fluchtachse, sind sie hintereinander zu erkennen, und dies je nach Standpunkt mit oder gegen das Ungleichgewicht zwischen den beiden Objekten. Schließlich ist die Umkreisung ein steter Wechsel dieser Möglichkeiten des Sehens, bis hin zum Raum zwischen den Objekten, der den Bezug der beiden in gewisser Weise körperlich nachvollziehbar werden lässt, während man zur einen und dann wieder zur anderen Seite schaut. Die Elemente selbst sind gestaltet mit Hohlräumen und Sichtachsen. Man kann in sie hinein, auf sie und unter sie, und durch sie hindurchsehen. Der Balken-Block ist auf die Tischgruppe in einem spitzen Winkel hin so ausgerichtet, dass er, in Bewegung versetzt, auf diese auftreffen würde.

Dieser räumliche Bezug der Objekte wird verstärkt durch ihre zeitliche Beziehung. Während der Block aus einem industriell gefertigten Vorprodukt, aus sogenanntem Halbzeug, besteht, das auf etwas Zukünftiges, noch Entstehendes verweist, vertritt das Tischensemble etwas Vergangenes, bestehend aus alten Holzmöbeln, die in Gebrauch waren und deren weitere Nutzung ausgeschlossen ist oder sein soll. Die räumliche und zeitliche Konfrontation verknüpft die beiden Gegenstände als Teile eines Zusammenhangs von Dingen, die Menschen gemacht haben. Ihr Ausdruck ist ein historischer und gegenwärtiger zugleich. Die Objekte gehören vom Material her derselben Stofflichkeit an, sie verweisen aufeinander als Bestandteile einer Gesellschaft, in der sich industrielle Produktion und soziale Situation verbindet.

Beide Objekte sind durch den Künstler gegen ihren Alltagszustand gestaltet. So lässt der Eingriff der fehlenden Tischplatte einen Leerraum entstehen, der gerade durch die an Kopf- und Längsseite untergeschobenen vier Holzstühle betont wird.

Für den Künstler folgt logisch aus dieser Konstellation, das gesamte Ensemble der Esszimmermöbel in der Mitte der Stühle bzw. der Tischbeine mit einer 30 cm breiten Frischhaltefolie mehrfach zu umwickeln, um mit dieser Intervention die Leerstelle als gegenwärtige und hergestellte kenntlich zu machen. Ein absoluter, ausnahmsloser Zwang wird erzeugt. Die Form macht weder eine Entnahme eines Einzelstücks, zum Beispiel eines Stuhls, möglich, noch ein Betreten der Gruppe, um sich hineinzusetzen. Die fehlende Tischplatte verstärkt noch den Eindruck der absichtsvollen Unmöglichkeit. Die Sitzgruppe mobilisiert in „hyperrealistischer“ (Ludwig Dunkel) Sichtbarkeit den Eindruck der Abwesenheit einst in diesem Interieur lebender Menschen.

Die Einrichtungssituation mit einem Tischobjekt erinnert an naturalistische Skulpturen, in denen Künstler wie Daniel Spoerri oder George Segal spezifische Erfahrungen von Geschichte und Gesellschaft dauerhaft fixieren konnten. Dunkel begegnet diesem Bezug mit einem auf seine Form reduzierten, nicht erzählenden Objekt, dem Block aus Balken. In dem in einer Raumachse auf den Tisch bezogenen Stapel aus Bauholz bilden die einzelnen Balken eine temporäre Einheit. Die Balken sind ähnlich aber nicht gleich, sie unterscheiden sich in Details. Die Unterschiede werden negiert durch das gleiche Maß und die Ordnung der Abstände und Anzahl; je sechs Balken quer und acht Balken hoch bilden den Block. Der Vorgang des Stapelns gilt für alle gleichermaßen und erzeugt die geschlossene Formation. Ihr Gewicht ist die Summe ihrer sich gleich machenden und gemachten Einzelheiten. Die in der klassischen Moderne entwickelte konstruktivistische Vorstellung von dynamisierter Bewegung von geometrischen Körpern wird hier evoziert durch den spitzen Winkel des Balken-Klotzes gegen den Tisch, der als verschnürter nicht bewegungsfähig sein kann. Während die Balken, gerade weil sie kollektiv und ungebunden sind, eine Kraft zu bilden scheinen, gegen die der Tisch hilflos erscheint. Diese verschiedenen Formen, Energie im Objekt zu bannen, sind gesellschaftlich vermittelt. Ist die Tischgruppe Ausdruck von Bürgerlichkeit, Individualität, Tradition, mithin Zivilisation, wird der Balkenklotz als in der Installation gleichrangiges und mit erheblich mehr Gewicht ausgestattetes Objekt zum Ausdruck der Dominanz von Masse, Rohheit, Präformierung und Unmittelbarkeit, ohne jegliches zügelndes Element. Der Klotz ist, bezogen auf den Tisch, die Ordnung, der die Zukunft gehört, und die das Einzelne einerseits verlassen hat und andererseits beherrscht.

Die vor allem formal bestimmten und abgeleiteten Qualitäten des an minimalistische Kunst anschließenden Kubus aus Balken verweisen darauf, dass auch der Tisch gleichfalls unter Maßstäben der Ästhetik zu beurteilen ist. Dies erlaubt es dem Künstler, den Tisch, da von jeder Buchstäblichkeit befreit, Assoziationen auszusetzen, die bei der Betrachtung, und dem Anlass der historischen Erinnerung der Ausstellung angemessen, entstehen. Die Willkür des Künstlers wird zu einer der Sache selbst. Der Tisch ist dieser bestimmte und doch steht er für viele Tische. Das Arrangement der Verlassenheit ist von Gewalt geprägt, insofern eine Rückkehr an diesen Tisch ausgeschlossen ist. Fehlende Tischplatte und Folie bezeugen dies ausdrücklich. Zugleich scheinen diese destruktiven Eingriffe mit Sorgfalt und Planung durchgeführt worden zu sein. Die dauerhaft ausgeschlossene Nutzung der Möbel wird durch den Gegensatz betont, den die Folie bildet als leichtem, transparentem Material, das sowohl fest wie auch vorläufig erscheint. Das heißt, in dem Maße, wie man es leichthin zerschneiden könnte, erscheint das Möbelarrangement geradezu als unauflöslich. Und der Kubus selbst wiederum wirkt assoziativ als nun brutale Form, die sich gerade in der Gleichförmigkeit ihres ruhigen Daliegens als Drohung kommender Gewalt übersetzen lässt.

Das Werk motiviert die Sicht auf eine bestimmte historische Situation. Dies wird von Dunkel zugleich durch den Materialeinsatz konterkariert, insofern die Stühle mit Sitzflächen und Rückenlehnen aus Binsengeflecht aus den 50er Jahren sind und die Frischhaltefolie aus dem Supermarkt der Gegenwart kommt. Die Konstellation der Geschichte, die niemand mehr betreten kann, ist ebenso eine der Gegenwart, in der der Künstler etwas zum Ausdruck bringt, dass sich dem Zugang verweigert. Es ist das Paradox einer offenen, für alle sichtbaren aber zugesperrten Form.

So schafft das Werk, eine soziale und gesellschaftliche Situation skulptural nachzubilden, als ein Denkbild, das den Abstand zu falscher Unmittelbarkeit wahrt. Der einzelne Fall wird nicht in einem unbestimmten Allgemeinen aufgehoben und ist doch nicht als buchstäblicher gemeint. Es sind die Prozesse der unabgeschlossenen und unwillkommenen Erinnerungen, die hier als Kunstwerk Form bekommen haben. Diese Erinnerungen scheinen verlassen, das Wissen um Vergangenes ist unvollständig. Der Künstler zeigt Verfahren, die die Verdeckung und Verdrängung der Erinnerung offenlegen, und zum Gegenstand werden lassen. Die nicht in das Ungefähre ausweichen, sondern im Gegenteil mit größter Schärfe zeigen, dass die Erinnerung aus dem besteht, was ihr als Unzugängliches zur Erfahrung wird.

Dieser Realismus ist laut Auskunft des Künstlers ein ganz und gar abstrakter, der weiß, dass die fehlende eigene Anschauung kein Grund ist, der Redeweise von Unsagbarem und nicht Zeigbarem mit Mitteln der Unschärfe und Übermalung zu folgen. Darin bestimmt sich ein zentrales Motiv im Werk von Dunkel. Unter Singularität wird ein Ereignis, eine Sache bezeichnet, für die trotz deren unbestreitbarer Realität, dass sie tatsächlich existiert, der Vergleich keine Erklärung gibt. Weder logisch, noch historisch, noch im Vergleich zu Ähnlichem. Es ist nicht das Besondere, Einzigartige, das mannigfaltig existiert, sondern deren Aufhebung, die mit Singularität bestimmt ist. Sie nimmt alles in sich auf. Singularität macht alles unterschiedslos zu sich selbst, eine einzige Totalität, aus der nichts entkommt. Dass dies als Erfahrung in der Shoah real werden konnte, wird wesentlich für das Werk von Dunkel, dessen Familie selbst von der Verfolgung der Juden betroffen war. Dunkel wiederholt die Erkenntnis der Singularität, und er widerspricht ihr. Er wiederholt, indem er formal durchführt, dass der Kunst dem Begriff nach alles verfügbar ist und sein muß, und nichts in ihr nicht Kunst sein kann; dass Kunst singulär sein muß, um Leid und Angst zum Ausdruck zu verhelfen, ohne diese zu wiederholen. Und er widerspricht, indem er einen Ausdruck findet für das Ausmaß der gesellschaftlichen Totalität als einer absoluten Negativität, die den Besuchern Gedanken abverlangt über den sich immer weiter fortsetzenden Zusammenhang von historischer Wahrheit und gegenwärtiger Verantwortung. In dieser Weise ist der Tisch ein besonderer Beitrag zur Erinnerung und zum Gedenken an die Verfolgung und Ermordung jüdischer Kinder im Nationalsozialismus und ihrer Rettung durch Belgierinnen und Belgier.

Werner Fleischer